Inmitten von Argentiniens 12-Millionen-Metropole bauen Aussteiger eine kleine Parallelwelt auf, möglichst ohne Geld und Müll. Mit Fluglärm finden sie sich ab, mit Bauplänen der Uni in der Nähe nicht.

28.05.2016 erschienen u.a im Greenpeace Magazin, Bild.de und focus.de

Buenos Aires (dpa) – Nur wenige Hundert Meter von den Betonklötzen, die zwei Fakultäten der Universität Buenos Aires beherbergen, führt ein Trampelpfad entlang eines Kanals zu einer kleinen Hütte aus Holz und Lehm. Bunte Glasflaschen sind als Fenster in die Wände eingearbeitet worden. Drinnen schmückt das Bildnis einer schwangeren Maya-Göttin die braunen Ziegel. Darunter sitzt Colvi Renzo Ramírez García auf einer dünnen Decke, die ihm als Schlafplatz dient.

«Eine Matratze brauche ich nicht», erklärt der gebürtige Peruaner, der sich auf den etwa zwei Quadratmetern Wohnfläche häuslich eingerichtet hat. Seine wenigen Habseligkeiten stehen ordentlich aufgereiht in einem kleinen Regal: ein paar Kleidungsstücke, Bücher und ein Laptop. Letzteren braucht der 35-Jährige für sein Physik-Studium an der benachbarten Universität.

«Ich studiere nicht, um einmal einen gut bezahlten Job zu finden, sondern weil ich so meine grauen Zellen auf Trab halten will», sagt er. Das wenige Geld, das er braucht, verdient er nach eigenen Angaben mit Jonglieren an Zebrastreifen.

In der Ökokommune «Velatropa» hat der Peruaner Gleichgesinnte gefunden und so seinen Traum von einem Leben außerhalb des Systems erfüllt. Seit drei Jahren bewohnt er die Hütte am Eingang des Ortes. «Ich bin hier sozusagen die Rezeption», sagt Ramírez García und streicht sich lachend eine der schwarzen Rastalocken aus dem Gesicht.

Folgt man dem von Bäumen und Palmengewächsen umsäumten Trampelpfad weiter, erreicht man schließlich das Herz der Kommune. Es gibt eine Fahrradwerkstatt, einen Hühnerstall, einen Platz für Yoga- und Kampfsportkurse, eine mit Bambuszweigen abgeschirmte Kaltwasserdusche, eine Freilichtbühne, die für Festivals und Zeremonien genutzt wird, und sogar eine kleine Bibliothek. Unter einem abenteuerlichen Konstrukt aus Wellblech befindet sich eine offene Küche mit selbstgebautem Steinofen. In Holzkisten sammeln sich leicht welke Salatköpfe, Möhren und Paprika.

«Wir leben hauptsächlich von dem, was wir anbauen, und von Waren, die Supermärkte und Gemüseläden nicht mehr verkaufen können», erklärt Ramírez García. Für das Herbeischaffen oder Zubereiten von Essen gibt es, wie für alle anderen Tätigkeiten, keinen Plan und keine festen Strukturen. «Wenn du eine Aufgabe siehst, ist es deine», steht auf einem Schild in der Küche geschrieben. Die einzige zusätzliche Regel: Fleisch gibt es nur für die Hunde.

Heute hat Nacho aus der ostargentinischen Provinz Mendoza das Kochen übernommen. Der Rucksackreisende hat sich vor zwei Wochen in der Kommune niedergelassen und ist sichtlich stolz auf eine Kreation aus zerstampften Kartoffeln, Reis und Tomaten, die auf der offenen Feuerstelle köchelt. Einige Bewohner sind durch den Geruch aus ihren Hütten und Zelten gelockt worden. Alle anderen werden durch gemeinschaftliches Klatschen davon in Kenntnis gesetzt, dass das Essen fertig ist.

Bevor es an die Töpfe geht, stellen sich die Kommunen-Mitglieder im Kreis auf, fassen sich an den Händen und meditieren ein paar Minuten. Dabei lassen sie sich von einem gerade gestarteten Flugzeug über ihren Köpfen nicht stören.

Vor etwa zehn Jahren war von der Idylle noch nichts zu spüren. Auf dem 17 Hektar großen Terrain stand die berüchtigte «Villa Rosa de Núñez», ein Armenviertel mit etwa 400 Bewohnern, das für Prostitution und Drogen bekannt war. Die Stadt Buenos Aires ließ das Gelände im Jahr 2006 räumen, um langgehegte Bebauungspläne umzusetzen. Ein Jahr später nistete sich die erste Generation der «Velatropaner» ein. Seither kollidieren die Interessen der Bewohner, die dort unbehelligt in ihrer kleinen Utopie leben wollen, mit dem Vorhaben der Stadt, das Terrain in ein Naherholungsgebiet für die Großstädter umzuwandeln.

Zuletzt eskalierte die Situation in der ersten Jahreshälfte 2015. Bagger und Baufahrzeuge waren angerückt, um einen Fahrradweg entlang des Kanals zu errichten und den Parkplatz der Architekturfakultät zu vergrößern. Da diesem Vorhaben einige Bäume zum Opfer fallen sollten, blockierten Studenten und Bewohner der Kommune die Bauarbeiten.

Jorge Aliaga, ehemaliger Dekan der Fakultät für Naturwissenschaften (2006-2014), erinnert daran, dass die «Velatropaner» eigentlich kein Recht haben, sich zu beschweren: «Letztendlich gehört das Gelände der Universität, das diese Leute ohne Erlaubnis besetzt haben.»

Seit Juni letzten Jahres sind die Bauarbeiten und die Streitigkeiten vorläufig zum Erliegen gekommen. Und so sehr Ramírez García und seine Mitstreiter sich auch vom Fortschritt bedroht fühlen, die Nähe zur Zivilisation bietet ihnen auch Vorteile. So zapfen sie beispielsweise Strom vom Netz der Universität ab und oft kann man das WLAN der Fakultät auch in «Velatropa» empfangen. Denn bei aller Verbundenheit zur Natur: Auf Facebook, WhatsApp und Smartphones möchte der Großteil der Bewohner auch beim Zusammensitzen am Lagerfeuer nicht verzichten.

Veröffentlicht u.a. im greenpeace magazine und bild.de